Mittwoch, 11. September 2013

Der Duisburger David


Ich sah mich gründlich um. Die Steingebäude waren schlicht und kubisch, aber verziert mit Säulen, Portiken und Basreliefs. Die meisten der letzteren zeigten Götter, Monster und Leute, die Schweinereien miteinander trieben. Mitten auf dem Platz stand ein ganzer Haufen überdimensionierter Statuen, die entweder die lokalen Götter und Göttinnen oder idealisierte Männer und Frauen darstellten, die meisten davon nackt und alle bunt bemalt. Ich gab meinem Erstaunen darüber Ausdruck, und Suzie verfiel sofort wieder ins Dozieren.
Simon R. Green: Spur in die Vergangenheit. Geschichten aus der Nightside Band 5

Wenn ich schon mal dabei bin über Kunst und ihre Möglichkeiten zu schreiben, kann ich das auch direkt richtig machen. Und warum ich dazu Greens Helden John Taylor bei seinem Trip durch die Zeit bemühe dürfte klar sein, sobald ich ein wenig ausgeholt habe, warum dieser Artikel jetzt zustande kommt. Ich fahre seid ein paar Jahren am liebsten mit den öffentlichen Verkehrmitteln. Die stärkste Antriebskraft ist dabei natürlich die Bahn, weil sie die beste Verbindugen einem bietet, wenn man zwischen den größeren Städten in NRW hin und her pendelt. Dabei hat man (zumindest in der 2ten Klasse) die Chance, das ein oder andere Gespräch zu belauschen. (Das muss nicht immer etwas Weltbewegendes sein, aber manchmal ist es dann doch recht interessant, was einzelne Personen jeweils so denken.)
Hans-Peter Feldmann: David (2006)
Foto: Hauke Weymann


In dem Beispiel, das ich jetzt gerade als Anstoß für diesen Artikel nutzen möchte, ging es um die David-Skulptur des Künstlers Hans-Peter Feldmann vor dem Lehmbruck-Museum im Duisburger Kantpark. Diese Skulptur wurde im April 2010 dort aufgestellt und hat (anscheinend) für ein ähnlich großes Aufsehen dabei gesorgt, wie es schon Nicki de Saint Phalles „Live Safer“ tat, der seid 1993 in der Duisburger Innenstadt steht, und mittlerweile ein Objekt ist, zu dem die Duisburger eine gewisse Hass-Liebe entwickelt haben.
Ich will hier jetzt natürlich nicht einen längeren Rant dazu verfassen, wie Kultur-Banausen nur eine solche Skulptur in Frage stellen können. Das Kunst nicht jedem liegt, ist mir schon länger bewusst. Die Ablehnung in dem Zusammenhang mit dem David bezog sich allerdings eher auf die Tatsache, dass ein nackter, bunt angemalter Mann da in der Innenstadt stünde und keiner wirklich wüsste, was es damit auf sich hat. (Ganz davon zu schweigen, dass man im Falle von Nacktheit doch viel besser eine Frauenfigur hätte nehmen sollen.) Im Grunde lautete die Kritik der kleinen, streitenden Gruppe gob wiedergegeben folgendes: Es ist nichts neues, es imitiert ja „nur“ etwas alt hergebrachtes, es sei teuer gewesen und im Grunde ist es (wegen der Männerfigur) auch noch eine Beleidigung fürs Auge.

Und an dieser speziellen Stelle muss ich jetzt aussteigen, was die ästhetische Wahrnehmung der Duisburger betrifft, und dazu übergehen, was hier eigentlich vorliegt. Wie ich bereits in meinem Startartikel zur geplant fortlaufenden Serie über die Kunst im allgemeinen habe verlauten lassen, vertrete ich durchaus eine Rezipienten einbeziehende Kunstthese. Eine solche Theorie, die den Rezipienten als Kunst erfahrenden Teil in der Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk begreift, hört an dieser Stelle aber nicht auf. Vielmehr ist auch der Künstler als Produzent von Artefakten der Kunst jemand, der mit einer solchen Position rechnen kann (und damit zum Teil auch muss.)

David von Michelangelo
Foto: Rico Heil
Lizenz: GNU-FDL
Die Originaldatei ist hier zu fidnen.

Und hier kommt es jetzt zu einer gewissen Arbeitshypothese für diesen Artikel im Fortlaufenden: Wenn der Rezipient in der Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk sich selbst mit einbringt, dann will der Künstler natürlich auch dem Rezipienten etwas geben, mit dem er über sich selbst nachdenken kann. Und das ist (denke ich) ein sehr guter Ansatz, um den Duiburger David zu erklären. Denn der Vorwurf des „nichts Neuem“ meiner duisburger Mitreisenden muss man als taktisch kluge Maßname Seitens Feldmanns. Wenn wir nämliche über „klassische“ Skulpturen reden, müssen wir eine gewisse Kenntnis des Objekts voraussetzen. Das heißt, es muss eine Skulptur sein, welche dermaßen berüchtigt ist, dass sie selbst zu einer Ikone der Unterbewussten im Laufe der Jahrhunderte geworden ist. Im besten Falle ist das gerade einemal der David, den Michelangelo zwischen 1501 und 1504 in Florenz anfertigte. Das besondere an dieser Skulptur ist, dass sie im Vorstellungsrahmen an „alte“ Vorbilder aus der Antike angelehnt ist. Sie ist daher das Ideal der Kunst der Renaissance, wenn wir einen Stellvertreter für deren Überzeugungen heranziehen müssen. Die Renaissance sah ihre Aufgabe darin, die Ideale der Antike wiederzubeleben, was Wissenschaft und Kunstfertigkeit anbelangte.
Jetzt ist natürlich folgendes dabei zu beachten: Zwischen der Antike und der Renaissance lag das Mittelalter. Ein ziemlich langer Zeitraum, in dem viel an Wissen und Kenntnis verloren gegangen war und dementsprechend erst einmal wiedererlangt werden musste. (Für die Wissenschaften – allen voran die Philosophie – war der Auslöser dabei die Zugänglichkeit des Wissens, welches im byzantinischen Reich überlebt hatte. Die letzten Kopien alter Schriften waren dort gelagert gewesen und es hatte zumindest unter den Byzantinern einen regen kulturellen Austausch über diese Schriften auch weiterhin gegeben.)
Im Falle der Kunst war die Sache ein wenig komplizierter. Man konnte nur aufleben lassen, was man sah. Und zumindest im Rahmen der Bildhauerei war das ein ungeheurer Kult der (zumeist männlichen) Körperlichkeit. Dafür orientierte man sich an den Skulpturen und Plastiken, welche für die Verehrung der Götter zumeist errichtet worden waren. Und diese Skulpturen bestanden zu dem entsprechendem Zeitpunkt aus naturfarbenem Stein. (Zumeist wurde Mamor aber bereits in der antike Eingesetzt.) Für den Geist der Renaissance galt also, dass man neben dem Ideal des menschlichen Körpers auch die Erhabenheit des Materials hervorheben musste, um den Geist der antike zu zelebrieren. Diese Erhabenheit entsprang der (nach damaliger Ansicht) reinen Weiße des Mamors. Michelangelo fertigte also einem nach seinem Verständnis nach perfekten Mann, der die Ideale seiner antiken Vorbilder wiedergab. Diese Idee des erhabenen, weißen Mamors hat sich als Ideal bis in unsere Zeit rübergerettet und wurde dabei von den unterschiedlichsten „unfehlbaren“ Autoritäten wieder und wieder bestätigt. (Meines Wissens nach soll auch der olle Ghoete nach seiner Italienreise in das entsprechende Horn geblasen haben. Und das man Ghote nicht anzweifeln oder gar kritisieren darf haben wir alle während unserer Deutschkurse nur all zu schmerzlich erfahren müssen, oder?)
Fakt ist also, dass sich hier ein Mem durch unsere Kulturgeschichte geschlängelt hat, das unsere Sicht und unsere ästhetisches Empfinden bis heute fast schon reflexartig geprägt hat. (Und wer dieser Idee wiedersprach musste sich solange Vorwürfe anhören, bis er gefälligst dran zu glauben hatte. Zur Not weil doch solche eindeutigen Autoritäten wie Ghoethe nicht Lügen würden.)

„Wir“ (selbst Heute noch) erwarten also, dass eine auf antik getrimmte Statue verfickt nochmal weiß zu sein hat. Das sehen wir ja sogar in den alten historien Streifen, die in den 80ern noch verstärkt im Fernsehen liefen. (Aber wohl selbst aus den 70ern dann stammten.)
Richtig?

Tja, ganz so einfach ist das natürlich nicht. Denn während unsere Popkultur noch fröhlich die Erhabenheit der Weiße zelebrierte stritten die Archäologen bereits seid dem frühen 20sten Jahrhundert über Erkenntnisse, die im später 19ten Jahrhundert gemacht worden waren: Da hatten nämlich ein paar Chemiker an weniger sonnenanfälligen Stellen einiger Statuen Pigmentspuren entdeckt, die eindeutig mit absicht da angebracht worden sein mussten. In den wissenschaftlichen Veröffentlichungen wird dieser Diskurs gemeinhin als „Chromatographiestreit“ geführt.
Aus der Sicht eines Fachmanns eröffnet sich das Ganze heute folgendermaßen: Die antiken Tempelanlagen waren nicht von einem strahlenden Weiß erfasst, sondern viel mehr (schon allein aus praktischem Nutzen) in schreiend bunten Farben geziert gewesen. So wie wir heute Gartenmöbel aus Holz mit einer Lasur gegen die Witterung schützen, versahen die antiken Griechen und später auch die Römer in deren Nachfolge, ihre heiligen Städten mit einem farbigen Anstrich, der regelmäßig erneuert werden musste, damit es „nach etwas aussah“ und die Statuen eben erhalten blieben. Diese Tradition der Farbigkeit rettete sich (und hier schließt sich der Kreis) ins byzantinische Königreich als letzte Außenstelle des alten Roms.
Warum? Nun, irgendwann in der Mitte des 20sten Jahrhunderts (ich kann leider zur Zeit nicht genau feststellen wann) gab es einen kleinen Zusammenschluß von Architekten und Archäologen, die in einem rein praktischen Ansatz versuchten nach diesem rekonstruiertem, antiken Vorbild entsprechend ein paar entwürfe farbiger Häuser im antiken Stil nachzuempfinden. Die entsetzte Reaktion der Verfechter der „Reinheitsthese“ soll damals gewesen sein, dass diese Entwürfe ja alle so „orientalisch“ Aussehen würden. Die Farbigkeit des alten Roms ist also ein antiker Exportschlager geworden, der bei der Eroberung Byzanz übernommen worden ist.

Der Duisburger David stellt demnach also unsere Erwartungshaltung in Frage und erinnert uns daran, dass unser „antikes Ideal“ eigentlich nur ein sehr renaissanistisches Abziehbild reinen Missverständnisses ist. Wir müssen uns also auf unsere eigenen Geschmacksvorlieben dabei berufen und können nicht die Autoritäten jahrtausendealter Traditionen vorschieben, was die Frage nach der Weiße des Mamors anbelangt.

Simon R. Green ist daher eine ziemlich lustige Entdeckung meinerseits, weil er Eine der ersten popkulturellen Persönlichkeiten ist, die sich mit einem leicht sarkastischen Tonfall genau dieses Phänomens eines tradierten Fehlurteils angenommen haben.

Und um jetzt nocheinmal aus meiner persönlichen Perspektive das ganze Abzurunden: Natürlich ist eine solches Detail Ideal fürs Rollenspiel geeignet, um damit zu arbeiten. Auch wenn man dafür in bestimmte, spezielle Faktoren eingehen muss.
Zur Erklärung: Ich bin jetzt seid einigen Jahren aktiv in einer Live-Domäne nahc dem Hintergrund von Vampire the Masquerade unterwegs. Während dieser Spielzeit haben sich einige, zum Teil sehr skurile Verbindungen zwischen einzelnen Charakteren ergeben. Man muss dabei hinzufügen, dass mein Malkavianer vom Hintergrund her auf die eine oder andere Weise natürlich danach geschriehen hat, „etwas“ mit Clan Toreador zu tun zu haben. Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, aber während dieser Zeit haben sowohl mein Charakter, als auch eine unserer Torris eine sehr enge Bindung zu einem speziellen Gebäude in Münster gehabt. Jetzt ergab es sich, dass die Torri IT die Staute eine barbusigen Venus von einem Ventrue geschenkt bekommen hatte, die sie anschließend in den Hinterhof des entsprechenden Gebäudes positioniert hatte. Diese Statue störte aus zwei Gründen natürlich meinen Malk-Kunsthistoriker: Sie war zum einen häßlicherster Kitsch. Zum anderen aber war sie „historisch Inkorrekt“. Gegen die Anwesenheit der Statue konnte er natürlich nichts unternehmen. Wohl aber gegen die historischen Fehler. Und so ergab es sich, dass in einer Nacht und Nebelaktion eine auf antiken Stil getrimmte Mamorstatue in knalligen Farben seitens „meiner“ Ghoule angepinselt worden ist, die eindeutig dem antiken Geschmack entsprochen hätten. (Man muss dabei hinzufügen, dass ich selbst den Duisburger David erst deutlich später zum ersten mal entdeckt habe.)

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